Frühlingspfeffer und grüne Pferde 
(Gedanken und Anregungen zum Ausreiten)

Ich muss es mir einfach von der Seele schreiben - in der Hoffnung, dem einen oder anderen (Lernbegierigen) vielleicht einen Gedankenanstoss zu geben, der dazu führt, dass Pferde anders verstanden und sowohl Ross als auch Reiter sicherer im Gelände unterwegs sind. Die folgenden Anregungen sollten grundsätzlich in die Ausbildung zum Reitpferd einfliessen, insbesondere nach einer oft langen Winterpause im Frühjahr geprüft werden.  

Es geht mir nicht um falsch oder richtig, das sind Kategorien, in denen ich nicht denke. Das im Video gezeigte Ereignis, aber auch die Bewertung des Geschehens (in den Kommentaren) veranlasst mich vielmehr, hier eine andere Perspektive darzulegen. Die Frage ist doch: Gibt es andere Möglichkeiten? Gibt es Strategien, die mehr Sicherheit und Erfolg versprechen? Das Ereignis gibt jedem die Gelegenheit seine eigenen Entscheidungen, seine eigene Reaktion und seine eigenen Fertigkeiten zu überdenken. 

Es ist klar, dem Reiter ist nicht gelungen, was er wollte. Es geht mir nicht um die Beurteilung der Qualität des Reiters, sondern darum, welche Möglichkeiten wir alle in einer solchen Situation haben. Welche Möglichkeit wir dann wählen, wenn wir einmal wissen, welche es gibt, ist jedem selbst überlassen.

Es wäre mir viel Wert, wenn jemand die folgenden Gedanken aufnimmt, die Strategien ausprobiert und sie als zielführend, zweckmässig und dienlich erfährt.

Meine Gedanken werden nur von denjenigen wirklich auf Tauglichkeit geprüft, die diese Zeilen mit einer positiven, offenen Einstellung lesen und ausprobieren. All jenen, die dazu nicht bereit sind, rate ich, ab hier nicht mehr weiter zu lesen, denn sie werden keine ernsthafte und sorgfältige Prüfung mit positiver Einstellung unternehmen und damit kein entsprechendes Resultat erzielen.  

Es liegt mir fern jemanden zu kritisieren. Stattdessen möchte ich eine Perspektive anbieten, die aus über 60 Jahren Erlerntem resultiert und aus dem Wunsch geboren ist, dass es gelingen könnte, diese Welt für Ross und Reiter besser zu machen.

Ein Kommentar zu dem Video: “Frühlingsgefühle” bei EQUITANAs Firlefranz - sowie Anregungen, Gedanken und mögliche Strategien, um solche Unfälle zu vermeiden und/oder die Auswirkungen zu vermindern: 

Exakt solche Situationen wie in o.g. Video zu sehen, werden nur allzu oft erlebt und als unvermeidlich und unvorhergesehen angenommen.  Es wird auch behauptet, man könne nichts dagegen tun. Es gebe halt Pferde, die seien so. Warum diese fatalistische Ansicht? 

Ich denke dies entsteht durch sich wiederholende und sich selbst bestätigende Erlebnisse und Ereignisketten - und das fehlende Wissen, diese Verhaltensmuster erfolgreich zu durchbrechen. 

“Wenn ich nicht weiss, was ich nicht weiss, kann ich nicht wissen, was ich nicht weiss”.  

Wenn man immer das gleiche erlebt und auf die gleiche Weise reagiert, und das gleiche Resultat erzielt, bedeutet das nicht, dass die Dinge so sein müssen. 

Wir lernen durch das Umfeld, in dem wir uns bewegen und aufhalten, und von jenen, denen wir vertrauen. Dabei ist Imitation der schnellste und effizienteste Weg zu lernen, keine Frage. Was wir in der Pferdewelt wiederholt sehen, wird oft leichtfertig nachgemacht. 

Auch solche unwirksamen und gefährliche Strategien, wie in diesem Fall zu sehen. Unwirksam weil nicht wirklich zum Erfolg führend. 

Erfolg in dieser Situation wäre aus meiner Sicht ein auf feine Signale sofort und im Vertrauen reagierendes Pferd. 

Das ist doch das, was jeder Reiter möchte. 

Viele Reiter erreichen das leider nie. Die meisten Reiter erreichen das nur dort, wo sie sich oft aufhalten - sei es in der Reithalle, auf dem Platz, im Gelände - aber eben nur dort, wo sie die meiste Zeit verbringen. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass die meisten Reiter es erreichen könnten. Es geht um entsprechendes Wissen und Können, und darum dieses im entscheidenden Moment anzuwenden.

Ich finde, Horsemanship Kunst ist, wenn ein auf feine Signale sofort und im Vertrauen reagierendes Pferd - überall, auch und vor allem in ungewohnten und unvorgesehenen Situationen auf Signale sofort, fein und im Vertrauen reagiert. 

Dazu gehört auch die Fähigkeit des Reiters, das Pferd nicht zu überfordern und da abholen, wo es in seiner Entwicklung ist. Es aber auch nicht zu unterfordern. Unter anderem deswegen heisst es Kunst. 

Aber zurück zur der Situation, die Gegenstand dieser Gedankenanregung sein soll: 

Immer wieder an der gleichen, sich wiederholenden Begebenheit zu scheitern (in diesem Fall: Pferd scheut “ganz plötzlich” und ist nicht mehr kontrollierbar) führt zwangsläufig zu der Ansicht, eine bessere Lösung sei unmöglich. Solche Ereignisse sind aber gefährlich und sollten auch nicht unbewusst und wiederholt kreiert werden. 

Der in diesem Fall oft angefügte Kommentar “Glücklicherweise ist Pferd und Reiter nichts passiert”, ist nur oberflächlich richtig. Auch “unvorhersehbar” sind Situation und Reaktion nicht, wenn sie jedes Frühjahr passieren.

Jedes Pferd ist ein Fluchttier und hat als solches bestimmte, angeborene Verhaltensmuster - wie etwa auch zu steigen, zu beissen, durchzugehen oder zu scheuen - die Frage ist somit nicht ob es passiert. Die Frage ist, wann es passiert und noch viel wichtiger: Warum es passiert und wie ich es vermeiden kann dem Pferd das Gefühl zu geben, es hätte keinen anderen Ausweg mehr. 

Jeder Zuschauer wird zustimmen, dass solche Situationen wie im Video zu beobachten gefährlich sind. Ich kann als Reiter darauf zählen, dass eine “unvorhersehbare Situation” passieren wird, vor allem dann, wenn ich es nicht erwarte. Somit sind solche Situationen unausweichlich und  vorhersehbar. 

Was kann ich in Vorbereitung tun, um etwaig entstehenden mentalen, emotionalen und physischen Schaden zu verringern oder gar zu verhindern und die unausweichliche Situation zu de-eskalieren anstatt zu eskalieren? 

Es ist ersichtlich, dass das Pferd nicht mehr vorwärts will und seine Hinterbeine reflexartig parallel stellt - die klassische, instinktive Vorbereitung zur Flucht. Die Reiterin unterstützt die Fluchtreaktion des Pferdes (im Sinne eines Signals fürs Pferd) noch mit Verkürzen beider Zügel und Schenkeldruck. Wo soll das Pferd denn hin?

Die Reiterin versucht, das Pferd mit zwei Zügeln unter Kontrolle zu halten. Was denkt das Pferd dabei? Zügel verkürzen wird zu vielen Zwecken gebraucht, vor allem zum Stoppen. Das Pferd steht aber schon und bekommt trotzdem die entsprechende Hilfe/Signal. Angezogene Zügel animieren auch nicht zum Vorwärtsgehen (angezogene Handbremse), obwohl: Da soll das Pferd doch hin?

Gleichzeitig signalisiert der Schenkeldruck “vorwärts” und/oder Engagement der Hinterbeine, was dem Pferd die Situation aufgrund der vermeintlich drohenden Gefahr und der verkürzten Zügel noch verdrießlicher macht. 

Vom Pferd aus gesehen alles in Allem eine verwirrliche und widersprüchliche Kommunikation und eine angsterregende, zwanghafte Einwirkung, zusätzlich zur drohenden Gefahr.

Das alles aus dem Bemühen heraus das Pferd an Ort und Stelle fest zu halten oder vorwärts zu bewegen.

Das funktioniert aber bei Pferden nicht. Zum Einen kann man ein Pferd nicht festhalten. 500-700 kg Fluchttier hält niemand von uns davon ab, zu flüchten, wenn es sein Leben bedroht und in Gefahr sieht. 

Stellt Euch vor: Ihr habt eine Schlange um Euren Hals. Ihr versucht mit allen Mitteln dieses unheimliche Tier loszuwerden. Dabei werdet Ihr aber von zwei starken Männern festgehalten?!

Zum Anderen: Wenn ein Pferd so abrupt und vehement erstarrt, geht es selten auf Antreiben sofort ruhig weiter.

Aus Pferdesicht: Bei derart kurzen Zügeln spürt das Pferd Druck im Maul und auf der Zunge, gegebenenfalls Schmerz, was die Angst verstärkt. Pressende Schenkel braucht man auch zum Vorwärtstreiben, bewirken aber ein engagieren der Hinterhand. Beide Signale gleichzeitig ausgeführt bewirken Platzangst. Dazu kommt noch das Klopfen am Hals. Dieses rhythmische Klopfen am Hals wirkt wie eine treibende Gerte. Dem Pferd wird es unmöglich ruhig zu stehen. Wenn es ein Lob sein sollte, dann kommt es zu einem ausgesprochen ungünstigen Zeitpunkt, da das Pferd für seine Angstreaktion gelobt würde. Dies war sicher nicht gemeint. Etwas beruhigender wäre ein Streicheln gewesen. Pferde und Frauen mögen es nicht so beklatscht zu werden. Somit unterstützt die Reiterin unbewusst den Drang des Pferdes sich zu verdünnisieren.

Was das Pferd in dieser Situation erlebt und lernt, ist eindeutig: “Ich werde gezwungen, ich kann auf meinem Menschen nicht bauen, er ist meines Vertrauens mein Leben zu schützen nicht würdig, seine Signale sind widersprüchlich und ich kann sie mit Erfolg ignorieren.

Ich fliehe, ich “gewinne” und beweise mir selbst mit der erfolgreichen Flucht, daß ich im Stande bin die bessere Entscheidung zu treffen.

Für die nächste, vergleichbare Situation ist das Pferd jetzt bereits besser vorbereitet auf die gleiche Weise zu reagieren. Perfektes Training. Nur nicht in die gewünschte Richtung. 

In dieser Situation ist also nicht “nichts” passiert. 

Beide haben ein Erlebnis durchlebt, das negative Spuren hinterlässt, zu enormer Anspannung und möglicherweise erneuter Eskalation in der Zukunft führt. Wir lernen was wir erleben und wir leben was wir erlernt haben, auch die Pferde.

Was geschieht im Video konkret? Das Pferd möchte abwenden, was die Reiterin vehement verhindert, was dazu führt, dass das Pferd in noch mehr Spannung bringt. Dann versucht das Pferd rückwärts aus der Gefahrenzone zu gehen. Die Reiterin treibt wiederum vorwärts und stoppt dadurch das Pferd. Die Spannung verstärkt sich noch. Besagte Spannung wird insbesondere durch die Hinterbeine deutlich, die parallel gestellt und untergestellt sind. Dies gibt dem Pferd maximale Kraft, seine Fluchtreaktion auszuführen. Dies ist die Kraft, die wir uns bei einer Piaffe, Passage oder Levade wünschen. Da das Pferd nicht abwenden darf, nicht rückwärts aus dem Gefahrenbereich darf und aufgrund der vermeintlich drohenden Gefahr auch nicht entspannen kann (dazu gespannte Zügel und pressende Schenkel) gibt es für das Pferd nur noch begrenzte Möglichkeiten, sein Leben zu retten. Ein Pferd kann sich nur vorwärts, rückwärts, rechts, links, rauf und runter bewegen oder in einer Kombination davon. Wie das aussehen kann sehen wir im Video in Perfektion. Das Pferd geht mit dem Kopf ins Rassembler, hebt den Widerrist und katapultiert sich und Reiter in die Luft und dreht sich dabei noch. Eine äußerst athletische Bewegung, zu einem unglücklichen Zeitpunkt, ausgelöst durch eine vermeintliche Gefahr und verstärkt durch die reflexartigen Reaktionen des Reiters.

Was könnte eine mögliche Lösung sein, die für Pferd und Reiter weniger gefährlich ist und das Pferd bestärkt, vermeintlichen Gefahren mit Mut und Selbstbewusstsein entgegen zu treten - anstatt seinem Instinkt zu folgen und blindlings zu flüchten? 

Trotz des athletischen und erfolgreichen “Not-Abstiegs” der Reiterin ist die von der Reiterin gewählte Vorgehensweise für Pferd und Reiter keine erfolgreiche. Die Reiterin könnte sich alle Knochen gebrochen haben und das Pferd hätte auf der Autobahn oder Bundesstraße landen und dort sein Leben verlieren oder anderes Leben gefährden können. 

Ich schlage vor: Wir ändern unsere Haltung des geradlinigen (Raubtier)Denkens und verzichten vorerst darauf, geradewegs auf die Gefahr zuzugehen. 

Ein Pferd (das Fluchttier) würde nie im Leben geradewegs auf eine wahrgenommene Gefahr zugehen. Man stelle sich vor wie das Pferd sich fühlen muss! Etwa so wie der Mensch, der vor Schlangen Angst hat. Jemand versucht nun diesen Schlangen Phobiker zu zwingen, sich einer offensichtlichen Giftschlange zu nähern und die Schlange ganz von Nahem zu betrachten. Jede Aufforderung dazu ist ein immenser Druck, der noch mehr Angst auslöst und kaum Vertrauen aufbaut.

Wie wählt ein Pferd natürlicherweise seinen Weg? 

Pferde entscheiden immer entsprechend derselben Kriterien, in immer  derselben Reihenfolge: 

1. Die Natur des Pferdes (Flucht vor Gefahr bzw. Sicherheit, Komfort und Spiel) 

2. Gelernte, frühere Erfahrungen, in Herde oder Ausbildung

3. Die menschliche Einwirkung - ergibt sie aus Sicht des Pferdes Sinn? 

Es liegt nicht in der Natur des Pferdes geradewegs auf eine etwaige Gefahr zuzugehen. Pferde sind skeptisch, angeborene Feiglinge, haben Platzangst und flüchten als Beutetier immer in Panik (gefühlt “Todesgefahr”) in unterschiedlicher Ausprägung. 

Ein Pferd folgt von Natur aus dem Konzept "Annäherung und Rückzug" (>> “Approach and Retreat”). 

Dabei bedeutet Rückzug die vom Pferd aus betrachtet notwendige Distanz zur vermeintlichen Gefahr (=natürliche Flucht), aber auch die proaktive Aktion des Reiters, das Pferd aus der Gefahrenzone zu bringen, und damit zu de-eskalieren. 

Sobald ein Pferd eine Gefahr bemerkt, stoppt es und analysiert die Situation. Es schaut. Es wägt ab. Ok oder nicht Ok?? 

Soll heissen: Leben oder Tod? Für das Pferd gibt es kein “vielleicht”. Es gibt nur ja oder nein. Wäre es tödlich, Neugier zu zeigen? Als geborene Skeptiker gehen Pferde kein Risiko ein und entscheiden sich beim geringsten Zweifel für die Flucht. “Sicher ist sicher” - entscheidet das Pferd. 

Pferde können Gefahren in 2.5 km Entfernung bemerken. Das ist (schon) die Annäherung: Die Gefahr ist in der Fluchtdistanz des Pferdes angekommen. Näher ran zu gehen, oder die Gefahr näher rankommen zu lassen, würde für das Pferd zuerst mal den sicheren Tod bedeuten. Solange das Pferd schaut und steht/eventuell “einfriert”, befindet es sich in der Analyse. Es wägt ab, ob Rückzug/Flucht überlebensnotwendig ist. Sind Ross und Reiter weit genug von der Gefahr entfernt, kann es stehen bleiben und eventuell entspannen und die Angst verfällt. Dies ist nur möglich, wenn das Pferd dabei nicht gestört wird. Ruhe ist also angesagt und Neutralität. Viele Reiter erkennen den Moment der “Analyse” zwar, aber geben dem Pferd aus welchen Gründen auch immer, nicht genügend Zeit zur Analyse. Oft sind sie dann der Meinung, das Pferd hätte vollkommen “unvorhersehbar” reagiert. Diese Gefahren sind zwar nicht genau vorhersehbar, jeder weiss aber, dass im Leben immer etwas Unvorhergesehenes passieren kann. Leider sind wir Menschen oft nicht bereit diese Reaktion des Pferdes als gegeben zu akzeptieren. 

Kommt das Pferd nach der Analyse zur Erkenntnis, dass alles Ok ist, könnten wir weiterreiten. Oft wäre es aber zu Beginn der Ausbildung besser, proaktiv einen Rückzug anzutreten. (Im Video versucht das Pferd genau das durch Abwenden nach rechts oder dann alternativ durch Rückwärtstreten). 

Vorsicht beim Weiterreiten: das Pferd könnte gleich wieder an diese “Feine Schwelle” stoßen, die erneut den Fluchtinstinkt auslöst. 

Sofern das Pferd nach der Analyse der Gefahr zu der Feststellung kommt, dass die Situation wirklich gefährlich und die Distanz zur Gefahr zu klein ist, ist Rückzug angesagt, d.h. schnellstmögliches Entfernen von der Gefahr. Dabei ist es unwichtig, ob wir Menschen die Situation auch als gefährlich sehen. Wenn wir dem Pferd nicht genügend Zeit geben “zu denken” (aka: zu analysieren) und stattdessen noch gewollt oder unbewusst Druck ausüben - erfolgt meist der sofortige Rückzug/Panik.

Außerhalb des Gefahrenbereichs halten Pferde an, schauen zurück und wenden auf der Vorhand. Neugierige(!) Pferde nähern sich nun der Gefahr wieder (approach). Da ja “nichts passiert ist” - es hatte keinen Folgen für ihr Leben bzw. den Verlust dessen - kommen sie diesmal etwas näher. Sie schieben sozusagen besagte “Feine Schwelle” etwas in Richtung Gefahr, ihr Zutrauen steigt. Es folgt wiederum der Rückzug. Man kann ja nie wissen. Der aufmerksame Beobachter wird feststellen, dieses Verhalten wiederholt sich so oft bis das Pferd die Gefahr (bzw. den Gegenstand) berührt hat. 

Dieses, dem Pferd natürliche Vorgehen können wir uns zunutze machen. “Approach und retreat” ist das Mittel zum Zweck das Pferd zu lehren, keine Angst zu haben. Wir erfüllen sozusagen sein natürliches Bedürfnis nach Sicherheit.

Indem wir das Pferd erleben lassen, dass keine Gefahr besteht in der jeweiligen Situation, lehren wir es, uns zu vertrauen und unsere Signale zu respektieren. 

Wir müssen bedenken: Dem Pferd stellt sich die Situation als ein “farbiges, tönendes, riechendes und Gefühle auslösendes, gefährliches Bild” dar. Das Pferd reagiert auf Sinneseindrücke und agiert instinktiv.

Je mehr solcher (vermeintlich) gefährlichen Erfahrungen sie mit uns positiv überwinden, umso weniger werden sie in neuen Situationen ängstlich und “unvorhergesehen” reagieren, und umso leichter fällt es ihnen, unseren Aufforderungen und Anforderungen zu folgen.

Also: Was können wir tun? 

1. Wir befinden uns in einer vergleichbaren Situation (Video): 

Ich schlage vor:  

  • Sofort absteigen - ODER: 

  • Hals seitlich biegen und absteigen - ODER: 

  • Rückwärtsrichten und die Gefahrenzone verlassen - ODER: 

  • Abwenden mit einer Wendung um 360° auf der Vorhand und eventuell (für den Reiter: vermeintliche; für das Pferd: wahrhaftige) Gefahrenzone vorläufig verlassen - ODER:

  • Abwenden zu einem Schulterherein auf einem sehr engen Kreis 

Anmerkung: Diese Vorschläge sind keine Vermeidungstaktik sondern proaktive Prävention zur Schadensminderung. 

2. Was können wir präventiv tun? 

Alle die folgenden möglichen Strategien können und sollten vorher in Ruhe geübt werden. Damit Pferd und Reiter sie verlässlich abrufen können, wenn die Situation es erfordert. 

“Prior and proper preparation prevents poor performance” 

- Pat Parelli

Wir wollen nun die einzelnen aufgezählten Strategien beschreiben und den Zweck erklären. 

Sofort absteigen (Notabstieg) würde der Reiterin im Video sicher mit Eleganz gelingen. Wann ist der beste Zeitpunkt, abzusteigen? Wenn man das erste Mal daran denkt! In dem Moment, wenn uns in den Sinn kommt, absteigen zu “sollen” muss im Grunde augenblicklich der Abstieg folgen. Das Zeitfenster für einen sicheren Notabstieg ist wie man auch in diesem Video sieht sehr klein. Es macht viel Sinn, einen Notabstieg auf beiden Seiten, in einem gesicherten Umfeld, (Reithalle oder Platz) zu üben. 

Den Hals des Pferdes seitlich biegen (“seitliche Biegung”) und absteigen: ist mit ein wenig Übung für viele Reiter leichter möglich. Jedes Pferd, dem man den Hals maximal seitlich biegt, wird irgendwann stehen bleiben (Gelegenheit zum schnellen Absteigen). Wiederholtes Üben dieser seitlichen Biegung in Ruhe oder bis sich Ruhe beim Pferd einstellt und dem Pferd als etwas Gutes vorkommt (es fühlt sich sicher) führt später durch Konditionierung beim Pferd zu einem Verhaltensmuster, das das Pferd bei jeder Aufforderung und in jeder Situation und immer schneller wiederholt. Eine seitliche Biegung des Pferdes um mehr als 30° bewirkt eine Behinderung der Vorwärtsbewegungen und ein Kreuzen der Hinterbeine (disengagement). Das verhindert automatisch eine Parallelstellen der Hinterbeine und vermindert die Gefahr von Piaffe, Galopp, Steigen Levade, Bocken zu einem ungünstigen Zeitpunkt und gibt dem Reiter die Kontrolle über den Motor: Die Hinterhand. Wir trennen sozusagen wie bei einer Kupplung die Kraft des laufenden Motors von den Rädern. Das Pferd kann sich sehr schnell bewegen, es kommt aber nicht von der Stelle. Dies wäre in u.g. Situation auch möglich gewesen, es kann aber nur eingesetzt werden, wenn das Pferd und Reiter darin geübt sind. 

Rückwärtsrichten und die Gefahrenzone verlassen

Wenn das Pferd nicht vorwärts gehen will, dann will es schon halb rückwärts. Deshalb wäre es in dieser Situation einfach, dem Pferd etwas “rückwärts” und den Rückzug (“retreat”) zu gestatten. Durch die grössere Distanz zur Gefahr verhindern wir die Eskalation der Angst des Pferdes. Damit vermeiden wir auch, das Pferd weiter “vorwärts” zu drängen, und gestatten ein “instinkt gerechtes” “anhalten und observieren”. Nur ein solches Verhalten macht uns in der Perspektive des Pferdes zu einem verlässlichen, respektablen und vertrauenswürdigen Partner.

Abwenden mit einer Wendung um 360°auf der Vorhand

Diese Strategie bedingt die seitliche Halsbiegung (s.o.) Strategie #2 wird mit nur

einem Zügel ausgeführt und mit einem einseitigen Seitwärts Treiben der Hinterhand kombiniert. Diese Kombination von einseitiger Zügeleinwirkung und seitwärts Treiben der Hinterhand hat ein Kreuzen der Hinterbeine zur Folge, ein sog. “dis-engagement”. Dabei ist wichtig: Linker Zügel, linker Schenkel oder rechter Zügel, rechter Schenkel. 

Jedes Pferd wird umso ruhiger, je länger es sich so bewegt. Eine Strategie, die sich in vielen Situationen als wertvoll erweisen kann. Daraus ergibt sich dann auch die Möglichkeit, in einem etwas ruhigeren Moment kontrolliert abzuspringen. Ich empfehle, diese Manöver in Ruhe und an einem sicheren Ort zu lernen und zu üben. 

Wer diese Übung studiert wird feststellen, dass dieses Manöver einen weiteren Vorteil bietet: Denn in dem Moment, wo die Füße des Reiters auf dem Boden aufkommen, entfernt sich die Hinterhand vom Reiter. Die Nase des Pferdes hingegen ist dem Reiter zugewandt. Die dadurch entstehende Position vom Pferd zum Reiter wird ein unkontrolliertes “Davonstürmen” des Pferdes deutlich erschweren und meist verhindern.

Abwenden zu einem Schulterherein auf einem sehr engen Kreis

Auch diese Strategie benötigt Vorbereitung und darüber hinaus ein neues Verständnis für das Manöver “Schulterherein”. Macht ein Pferd ein Schulterherein auf einem engen Kreis, so gehen die Hinterbeine einen weiteren Kreis, kreuzen sich und können nicht mehr schieben. Disengagement.  Damit machen die Vorderbeine einen sehr kleinen Kreis und/oder bleiben an Ort.  Das Pferd bewegt sich zwar extrem, kommt aber nirgendwo hin. Das Pferd wird nicht festgehalten (siehe oben), aber es geht auch nicht irgendwo hin. Die eigentliche Flucht ist nur noch schwer möglich. 


Auch durch dieses Manöver wird jedes Pferd umso ruhiger, je länger es sich so bewegt. Eine sichere, gute Alternative  um die unerwünschte Kraftentwicklung des Pferdes zur Flucht zu vermeiden. Denn dadurch, dass das Pferd seine Hinterbeine parallel stellen kann, kann es mehr Kraft entwickeln, die Flucht erfolgreich durchzuführen. 

Die “unvorhergesehene und kaum kontrollierbare Situation” 

Aus den Kommentaren ist zu entnehmen, dass Situationen wie in beigefügten Video “unvorhergesehen” und kaum “kontrollierbar” seien. Dem widerspricht aber, dass es kaum einen Reiter gibt, der ein solches Ereignis nicht bereits erlebt hat. Daraus folgere ich, dass die Ausnahmen nur “Glück” hatten. Das wiederum bedeutet für mich aber auch, dass eine solche Situation jedem jederzeit passieren kann. 

Ist es deswegen nicht möglicherweise lohnenswert, sich auf solche unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Situation vorzubereiten? 

Wenn doch die Chancen hoch stehen, dass mir passiert, was jedem passiert, dann bereite ich mich doch vor. Warum denn nicht? 

"The definition of confidence is knowing that you are prepared for the unthinkable." 

- Ray Hunt

Eine gute Zeit, Eurer Adrian

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